An der Grenze zwischen dem Wallis und dem BernerOberland schließe ich mich dem Himmel an. Die Jungfrau ruft mich. Sie ist der Symbolberg der Region Grindelwald und wacht neben Mönch und Eiger über die Alpen. Mitte Oktober ist es soweit und der Sommer hält an. Die schönen Tage scheinen in diesem Jahr dem Schnee nicht weichen zu wollen. Getragen von den milden Winden des Herbstes ist mein Eifer ungebrochen. Neue Gipfel zu erklimmen, neue Kämme zu durchschreiten und mit den Gipfeln eins zu werden, das ist es, was mich antreibt und glücklich macht.
Also treffe ich mich mit Johann Filliez, einem Bergführer, mit dem ich schon so viele Abenteuer geteilt habe. Gemeinsam beschließen wir, die Jungfrau über den Innera Rottalgrat zu besteigen. Abseits des Jungfraujochs und seines stark frequentierten Bahnhofs ist dieser Lauf wild und wenig begangen. Ein erhabener Höhenflug, bei dem Sie einem der schönsten Viertausender der Schweizer Alpen begegnen.

Besteigung der Jungfrau | Vom Lauterbrunnental zur Rottalhütte
13. Oktober 2023. Johann und ich verlassen das Dorf Rütti, das sich in das Lauterbrunnental schmiegt. 1850 Höhenmeter liegen vor uns, um die Rottalhütte zu erreichen. Abgesehen von der sportlichen Herausforderung ist der Aufstieg zur Hütte bereits eine Reise für sich. Von einem Waldweg aus erreichen wir die Almwiesen. Durch das hohe Gras der Weiden und unter einem strahlenden Himmel erstrahlt die Natur. Während wir gehen, öffnet sich der Vorhang für das Breithorn, den Tschingelhoren und das Mutthorn, die den Boden des Lauterbrunnentals beherrschen. Wir sehen auch die märchenhaften Hänge der Äbni Flue, die wir beide im letzten Frühjahr mit Skiern abgefahren sind. Die Nordwand der Flüebni ist ein Abgrund mit beeindruckenden Hängegletschern.
Das Tal ist zu Beginn des Herbstes wild. Das braune Gras leuchtet zum letzten Mal, bevor es für mehrere Monate vom Schnee bedeckt wird. Die letzte Flamme einer Natur, die bereit ist, einzuschlafen und nur auf den Frühling wartet, um wieder zum Leben zu erwachen. Was für eine feurige und doch so flüchtige Schönheit! Ich sauge ihre Opulenz in mich auf und entdecke mit jedem Blick neue Perspektiven und neue Wege. Das Hochgebirge erstaunt mich immer wieder.
Dann verwandelt sich die Landschaft. Die Almwiesen weichen den Felsen, und von der Pflanzenwelt treten wir in die Welt der Mineralien ein. Der herbstlich beladene Himmel überzieht die Höhen und wir tauchen in eine meisterhafte Atmosphäre ein. Wir bewegen uns nun inmitten einer düsteren und großartigen Welt, die von riesigen Gletschern beherrscht wird.
Die Rottalhütte | Am Fuße des Innera Rottalgrat
Unsere Schritte führen uns durch den zerklüfteten Fels zur Rottalhütte, die am Fuße des Rottalgletschers liegt. Dies ist der Höhepunkt einer vierstündigen Wanderung an den Hängen der Berner Berge. Der Gletscher zeigt uns seine wunderschönen Spalten, seine inspirierenden Linien und seine gedämpften Farben. Graues Camaïeu de gris auf dem Gipfel der Alpen als vibrierendes Meisterwerk einer Natur, die einem die Seele zerreißt. Der Gletscher ist von Felsen umgeben und scheint zu brüllen. Er zeigt seine Risse wie die Narben eines leidenden Kolosses. Seine Kurven lockern sich wie das Leben, das in ihm fließt, unbändig und tausendjährig. Ich ertrinke in seinen Eingeweiden, die so viele Wahrheiten in sich tragen. Ich fotografiere ihn, indem ich seinem schwankenden Schnee einen Hauch von Ewigkeit verleihe. Immer und immer wieder und aus allen Perspektiven. Weil mir das Erbe der Alpen am kostbarsten ist und ihre Schönheit unendlich ist.

Die Rottalhütte ist ein unbewachtes Biwak. Wir bringen also unsere gesamte Ausrüstung mit und ich genieße das Gefühl, ohne alles zu sein. Sich auf das Wesentliche zu besinnen, um die Berge besser zu verstehen. Nachdem wir die Tür der Hütte aufgestoßen haben, blättern wir die Seiten des Gästebuchs um. Erstaunt stellen wir fest, dass nur eine Handvoll Bergsteiger in dieser Hütte Halt machen, um die Jungfrau über den Innera Rottalgrat zu besteigen. Diese doch sehr schöne Überquerung ist sicherlich der schönste Weg zum Berg. Da wir 3248 Höhenmeter vom Tal bis zum Gipfel der Jungfrau überwinden müssen, ist ihr Ausmaß mit dem des Mont Blanc ohne die Hilfe von Skiliften vergleichbar. Ein Aufstieg, der den größten würdig ist!
Wir schätzen unser Glück ein, dass wir hier oben sind. In der Abendsonne können wir den Verlauf des Grates erahnen, den wir am nächsten Tag besteigen werden. Dann blicken wir auf die rot glühende Landschaft. Diese dämmrige Zwischenwelt, in der sich die Elemente wiederfinden, in der die Schönheit der Höhen ihre Wahrheit singt. Die reinen Farben des Himmels zeichnen für einen Moment die Unermesslichkeit des Berges neu. Und wir sind im Herzen dieser märchenhaften und erhabenen Welt anwesend.
Die Zeit schreitet voran und unser Magen beginnt zu hungern. Also tauschen wir unsere Wanderkleidung gegen eine Kochmütze und bereiten das Abendessen vor. Wir zünden ein Feuer an und kochen Eis darin. Wir füllen unsere Feldflaschen mit diesem wundersamen Wasser, das auch für das Kochen unseres Essens unerlässlich ist. Und heute Abend gönnen wir uns ein Festmahl! Auf der Speisekarte steht mein Lieblingsgericht: Nudeln mit Pesto, die mit Parmesan bestreut sind. Ein wahrer Genuss! Ich genieße sie schon seit Jahren im Hochgebirge, wenn ich im Zelt oder in einer Berghütte biwakiere. Dieses Gericht ist nicht nur köstlich, es benötigt auch nur wenige Zutaten, ist einfach zu kochen und braucht wenig Wasser. Wenn die Flüsse nicht mehr fließen, die Gletscher weit weg sind und der Schnee fehlt, wird Wasser so kostbar, dass man damit sparsam umgeht.
Besteigung der Jungfrau über den Innera Rottalgrat
14. Oktober 2023. Die kurzen Tage im Herbst erlauben es uns, später aufzustehen. Um 4:30 Uhr essen wir ein großes Stück Nusstorte. Diese Spezialität aus Graubünden ist ein Energiebündel, das uns für den nächsten Tag fit macht. Um 5 Uhr verlassen wir die Rottalhütte und erreichen in nur 10 Minuten den Fuß des Innera Rottalgrats. 1400 Höhenmeter liegen vor uns. Auf diesem Westgrat der Jungfrau, im Schutz der Sonne, dachte ich, dass ich sehr frieren würde. Aber das war nicht der Fall. Eine so milde Umgebung in so großer Höhe verheißt leider nichts Gutes für die Zukunft. Je weiter ich vorankomme, desto mehr Kleidung ziehe ich aus, weil mir durch die Anstrengung so heiß wird.

Nachdem wir einige Felsen erklommen haben, erreichen wir eine Höhe von 2928 Metern. Dieser Punkt, der von der Rottalhütte aus zu sehen ist, markiert den eigentlichen Beginn unseres Laufs. Ich war mir sicher, dass wir einige schwierige Passagen zu bewältigen hatten, aber wir sahen uns einem langen Pfad gegenüber. Wir wanderten gemütlich auf diesem Weg, bevor wir auf kräftigere Felsen trafen. Johann geht vor mir über steile Serpentinen und wählt die sichersten Passagen. Ich folge ihm und fühle mich in dieser zerklüfteten Welt wohl. Ich bin es gewohnt, mich auf brüchigem Untergrund zu bewegen, wenn ich fotografiere. Wir kommen also schnell voran, bis wir auf einer Höhe von 3281 Metern eine seltsame Ebene erreichen. Die Jungfrau ist immer für eine Überraschung gut.
Die Morgendämmerung bricht an und die blendenden Silhouetten der höchsten Berge zeichnen sich am Horizont ab. Der Mont Blanc, der Grand Combin und die Dents du Midi erwachen im ersten Licht des Tages zu neuem Leben. Das Schauspiel ist märchenhaft. Die Emotionen überwältigen mich und mein Herz schwankt zwischen der höchsten Freude, hier zu sein, und der Angst vor den Schwierigkeiten, die der Aufstieg mit sich bringen wird.
Vor uns erhebt sich tatsächlich eine Felswand. Sie scheint mir unüberwindbar, aber ich vertraue Johann, dass er mich führt. Auf einer Höhe von etwa 3700 Metern sieht der Berg plötzlich ganz anders aus. Der Kalkstein weicht einer Mischung aus Gneis, und aus einem beigen Gestein wird ein dunkler, grauer Stein. Die Veränderung ist plötzlich und wird von ernsthafteren Hindernissen begleitet. Glücklicherweise können wir uns mit den auf dem Weg installierten Fixseilen behelfen.
Dann macht die klare Morgendämmerung Platz für die großzügige Sonne, die das Panorama erleuchtet. Mir fehlen die Worte angesichts dieser Pracht. Hier ist alles nur Harmonie und Größe, und die wilde Schönheit vereint sich mit dem Wesentlichen. Ich traue meinen Augen nicht, denn die Szene ist fantastisch! Aber die Berge lassen uns keine Ruhe und ich muss mich immer wieder auf meine Bewegungen konzentrieren.
Auf 3789 Metern Höhe betreten wir zum ersten Mal den Schnee. Glitzernd und rein klammert er sich zu meiner Erleichterung an das Eis. Denn ich hatte befürchtet, dass dieser steile und anspruchsvolle Abschnitt des Gipfels aus Blankeis bestehen würde. Auf den schneebedeckten Gipfeln des Inneren Rottalgrats gehen wir mit Leichtigkeit. Nach einem kurzen felsigen Abschnitt bewältigen wir im Schnee einen weiteren steilen Hang, der uns unter den Gipfel führt. Als letzte technische Etappe vor unserer Ankunft müssen wir eine Rimaye, eine offene Gletscherspalte im Hochfirngletscher, überwinden. Die Prüfung ist hart und ich weiß nicht, wie ich sie ohne die unschätzbare Hilfe von Johann gemeistert hätte, der vor mir einige Stufen in das Eis schneidet. Ich danke ihm tausendmal dafür!
Auf dem Gipfel der Jungfrau | Königlicher Berg der Berner Alpen
Dann beschleunigt sich alles und einige Minuten später erreichen wir endlich den Gipfel der Jungfrau auf 4158 m Höhe. Es gibt keine Spur von Schnee oder Eis, der Berg ist mit Kieselsteinen bedeckt. Die Zeiten ändern sich rasend schnell. Dann schaue ich auf und bin sprachlos. Bin ich noch auf der Erde oder ist das alles nur ein Traum? Die gesamten Alpen präsentieren sich uns in einem tiefen, unverfälschten Licht. Die Berner Berge, der Piz Bernina, die Walliser Riesen und das Mont-Blanc-Massiv. Der Aletschgletscher, der längste Gletscher Europas, fließt an uns vorbei.

Unser Blick umfasst fast alle Alpengipfel, die über 4000 Meter hoch sind. Unter dem tiefblauen Himmel und der strahlenden Sonne vereinen sich Fels und Eis zu einer wunderbaren Welle. Die Grate und Gipfel zeichnen die Geschichte eines unerschütterlichen und doch so zerbrechlichen Berges. Die Erinnerung daran ist unvergesslich. Mit Blick auf die Welt bewundere ich all diese Gipfel, die ich bereits bestiegen habe, und ich stelle mir bereits meine zukünftigen Odysseen vor. Ich sehe auch den Weg zurück, den ich entlang des Inneren Rottalgrats zurückgelegt habe. Und ich fotografiere endlos die weite Landschaft, die Felsreliefs und die Gletscherspalten. Ich fotografiere sie, um immer daran zu denken, dass die Natur schön ist und die Berge ihre Königin sind. Wie die Apotheose einer Welt, die der Zeit trotzt.
Abstieg von der Jungfrau über den Normalweg zum Jungfraujoch
Aber die Zeit vergeht und wir müssen wieder absteigen. Wir beschließen, auf dem Rückweg den Normalweg zum Jungfraujoch zu nehmen. Die Bedingungen auf dem Grat, der uns zum Rottalsattel führt, sind gut. In dieser Zeit, in der der Schnee noch auf sich warten lässt, kann das sichtbare Blankeis jedoch viele Gefahren bergen. Bei jedem Schritt kann man abrutschen. Vom Rottalsattel wandern wir dann zum Jungfraujoch. Wir stoßen auf einen steilen Hang aus Eis und unbeständigem Schnee. Ich kann nicht rückwärts hineingehen. Johann seilte mich ab.
Auf dem Jungfraufirn-Gletscher angekommen, wird unsere Konzentration auf eine harte Probe gestellt. Wir stehen vor einem riesigen Labyrinth aus Spalten, die unter dem Schnee begraben sind. Ein einziger Unachtsamkeitsfehler und die Falle schnappt zu. Jeden Moment kann eine Schneebrücke abbrechen und uns in eine Gletscherspalte stürzen lassen. Johann bemüht sich, die sicherste Route zu finden, und wir bewegen uns mit gespannten Seilen auf dem Rücken dieses unbarmherzigen und fesselnden Kolosses vorwärts. Durch abgrundtiefe Gletscherspalten und über Schneebrücken hinweg kommen wir voran, koste es, was es wolle. Und ich frage mich, wie die Natur es schafft, die schlimmsten Gefahren mit den schönsten Kleidern zu schmücken. Wie kann unvergleichliche Schönheit so große Angst in uns auslösen?
Gesund und munter erreichen wir schließlich das Jungfraujoch und unsere Einsamkeit prallt mit voller Wucht auf die Zivilisation. Hunderte von Menschen sind hier, die diesen Höhepunkt der Alpen, einen der meistbesuchten Orte der Schweiz, besuchen wollen. Während ich noch ganz in Gedanken versunken bin, nehmen wir den Zug, um ins Tal zu gelangen. Die Berge ziehen an mir vorbei und ich komme wieder auf die Erde zurück. Meine Knie leiden noch von der Überquerung des Täschhorns am Dom des Mischabel in der Vorwoche, und ich bin froh, dass ich die 2000 Höhenmeter bis zum Bahnhof Kleine Scheidegg mit dem Zug zurücklegen kann.
Auf dem Eisenbahnpass angekommen, machen Johann und ich eine Pause. Was für ein unglaubliches Glück, dass wir uns angesichts des mythischen Berner Triptychons stärken können! Die Jungfrau ist nun erobert, der Eiger im Juli bestiegen und der Mönch im letzten Jahr. In Grün, Grau und Blau gekleidet, trägt die Natur ihr schönstes Gewand wie die Fahne aller Möglichkeiten. Denn in den Bergen müssen wir etwas wagen. Wir müssen unsere Technik verbessern, unseren Geist stärken und daran glauben, dass selbst die größten Ambitionen eines Tages möglich sein können. Lassen wir also die Ideen keimen, die Projekte erblühen und unsere Träume, da bin ich mir sicher, werden eines Tages wahr werden.